Ausstellung
Beinahe zwei Drittel des Hochformats sind dem Himmel vorbehalten – ein ungewöhnlicher Bildausschnitt für eine Alpenlandschaft. Jahrzehnte nach seinem Aufenthalt in Amsterdam blieb Wüest von der Malerei des Holländers Jacob von Ruisdael und seinen Wolkentheatern geprägt. 1772 unternahm der Zürcher im Auftrag des englischen Naturforschers, Archäologen und Kunstsammlers John Strange eine Reise zum Rhonegletscher – die ideale Gelegenheit, das Hochgebirge zu entdecken und dort eine Reihe von Skizzen nach der Natur anzufertigen. Sein Gletscher ist mit dem topografischen Realismus eines Künstlers der Aufklärung gemalt, jedoch gepaart mit der Vorliebe der aufkommenden Romantik für die Verbindung von Idylle und Grösse, von Malerischem und Erhabenem.
Unter dem mächtigen Himmel ergiesst sich der gewaltige, mit Seracs gespickte und bläulich-weiss schimmernde Eisstrom bedrohlich ins Tal hinunter, vor winzigen Figuren im Vordergrund. Der seitdem dramatisch geschrumpfte Rhonegletscher heute zu einer internationalen Ikone des Klimawandels geworden.
Der in seiner Heimatstadt Zürich ausgebildete Wüest (1741-1821) hielt sich längere Zeit in den Niederlanden auf und malte Landschaftsbilder im holländischen Stil des Goldenen Zeitalters. Dann übernahm er den Geist der Aufklärung mit seiner neuen wissenschaftlichen, künstlerischen und touristischen Herangehensweise an die Natur und seiner Begeisterung für die Alpen. Zusammen mit Caspar Wolf und Füssli zählt er zu den bedeutendsten Malern der Vorromantik in der Schweiz.
Johann Heinrich Wüest, Der Rhonegletscher, um 1775, Schenkung Heinrich Escher-Escher zum Wollenhof, 1877. Kunsthaus Zürich